Ob Tradition, Sprache, Handlungen, Identität: Kultur wurde lange Zeit als etwas verstanden, was nur den Menschen ausmacht, Tieren jedoch vorenthalten ist. Der Mensch als Krönung der Schöpfung – ein solches Bild erleichtert es ungemein, Tiere einzusperren, zu verdrängen oder zu töten. Doch was ist, wenn sich bestimmte Tiere als hochintelligent, als super-sozial und gar als Wesen mit Kulturen und Traditionen erweisen, die sie als Gemeinschaft verbinden und die Artgenossen und Nachkommen von ihnen erlernen? Immer mehr Studien zeigen genau dies und werfen zentrale Fragen für den Tier- und Artenschutz auf:
- Bereits 1950 beobachteten Forscher bei Makaken auf der japanischen Insel Koshima ein Verhalten, das ihre Artgenossen anderswo nicht zeigten: Die Affen waschen schmutzige Früchte im Wasser, bevor sie sie verzehren. Und sie geben diese Esskultur offenbar als Tradition von Generation zu Generation weiter.
- In den 1960er Jahren entdeckte Jane Goodall bei wilden Schimpansen den Gebrauch von Werkzeugen: Mit kleinen Zweigen angeln sie Ameisen und Termiten aus ihren Bauten. Die eine Schimpansen-Horde erbeutet Honig mit Stäben, eine andere nimmt hierfür gekaute Blätter, die wie ein Schwamm wirken. Kein Einzelfall: Orang-Utans und Gorillas wurden dabei beobachtet, wie sie mit einem langen Ast zuerst testen, wie tief ein Gewässer ist, bevor sie hindurchwaten. Eine neuere Studie zeigt: Je mehr Weibchen in einem Schimpansen-Trupp sind, desto mehr Techniken und Traditionen werden in dem Trupp weitergegeben.
- Dass mehrere Buckelwale als Team Fischschwärme mit Luftblasen-Netzen umzingeln, um die begehrte Beute zusammenzutreiben, ist schon lange bekannt. Doch Anfang der 1980er Jahre beobachteten Forscher im Golf von Maine (USA) einen einzelnen Buckelwal dabei, wie er jedes Mal vor dem „Bubble-Feeding“ mit der Schwanzflosse auf die Wasseroberfläche schlug, was die Fische zusätzlich verwirrte und ihren Fang nochmals erleichterte. Über die nächsten 20 Jahre übernahmen immer mehr Buckelwale der Region die neue Jagdtechnik ihres Artgenossen; inzwischen ist dies bei fast der Hälfte dieser Buckelwal-Population Teil ihrer Jagdtechnik. Ein großer Selektionsvorteil in Zeiten von industrieller Überfischung…
- Bei Orcas weiß man inzwischen, dass verschiedene Gruppen nicht nur unterschiedliche Dialekte haben, sondern dass diese Dialekte sehr unterschiedlich komplex sind. Schließen sich Orca-Gruppen zu sogenannten „Clans“ zusammen, geschieht dies zwischen Gruppen mit ähnlichen Dialekten. Und sie sind nicht die einzigen Meeressäuger: Auch bei Blauwalen und Pottwalen kennt man inzwischen lokale Dialekte. Über diverse Pfiffe rufen Delfine ihre Artgenossen regelrecht beim Namen. Und 2018 entdeckten Forscher, dass Buckelwale die Gesänge ihrer Gruppe alle paar Monate verändern.
- Delfine, Menschenaffen, Elefanten: Bei immer mehr Tierarten haben Wissenschaftler ein Ich-Bewusstsein nachgewiesen: Sie erkennen sich im Spiegel. Das lässt sich zum Beispiel so nachweisen, dass Schimpansen vor einem Spiegel versuchen, sich einen aufgemalten Punkt auf der eigenen Stirn zu entfernen.
- Afrikanische Elefanten sind für ihre langen Wanderrouten bekannt. Die erfahrenen Leitkühe haben dabei eine zentrale Funktion: Sie wissen genau, wo es zu welcher Jahreszeit Wasserquellen gibt, wo Salze und andere wertvolle Mineralien zu finden sind. Und sie treffen, das zeigen ganz aktuelle Studien, situationsabhängige Entscheidungen, wann sie ihre Herde wohin führen, um deren ideale Versorgung zu gewährleisten und so auch die Fruchtbarkeit jüngerer Weibchen zu erhöhen. Selbst die jüngsten Herdenmitglieder wissen noch Jahrzehnte später, was sie so gelernt haben.
- Dass Tiere trauern, insbesondere wenn es um den Tod ihres Nachwuchses geht, ist hinreichend bekannt. Doch vor allem bei hoch sozial lebenden Tierarten wie Elefanten und verschiedenen Affen verabschieden sich nicht nur die Mutter, sondern auch andere Herdenmitglieder von einem gestorbenen Tier. Sie versuchen, es aufzurichten, beschnuppern und betasten es; teils wird der tote Leib noch eine Weile mit herum getragen oder gegen Fressfeinde verteidigt.
Sprache, Werkzeuggebrauch, Ich-Bewusstsein, Trauerkultur…
… die Liste bemerkenswerter Verhaltensweisen und Traditionen bei Wildtieren, die von Generation zu Generation weitergegeben werden – durch Nachahmen und Lernen, nicht durch Vererbung – ließe sich endlos fortführen. Sie lässt die einst scharfen Grenzen zwischen Mensch und Tier aufweichen. Dies wirft moralische Fragen auf, wie wir Menschen mit Tieren umgehen. Wie können wir es beispielsweise verantworten, wilde Orcas aus ihrer Gruppe herauszureißen und sie mit ihnen völlig fremden Artgenossen zusammenzupferchen? Dass Elefanten ein tristes Leben in Wanderzirkussen fristen müssen? Dass noch immer Elefantenbabys aus ihren Familien gerissen und in Zoos gebracht werden?
Im Mai 2019 warnte der Weltbiodiversitätsrat eindringlich davor, dass einem Achtel aller Tier- und Pflanzenarten die baldige Ausrottung droht, wenn wir alle nicht unseren Ressourcen-Verbrauch drastisch senken sowie Klimaerhitzung und Vergiftung beenden. Eine Mammutaufgabe von höchster Dringlichkeit. Und es geht um noch mehr: Die vielen Studien zu Kulturen und Traditionen bei vielen Tierarten zeigen dabei, dass Artenschutz über die rein genetische Vielfalt hinausgehen sollte – auch die kulturelle Vielfalt gilt es zu bewahren. Was uns etwas zuversichtlich stimmt: Noch nie war der Artenschutz-Appell an Wissenschaftler, Öffentlichkeit und Politiker so klar, noch nie die Notwendigkeit zu handeln so klar wie derzeit…
Autorin: Dr. Sandra Altherr
Veröffentlicht am: 12. Juni 2019